Die Tür zur Dachwohnung steht offen. Ein großes Schaukelpferd mit Glasaugen, Puppen in einem weißen Gitterbett, in einem alten Hochstuhl ein Teddy. So ein alter, holzwollegefüllter. Ich fotografiere ihn, statt ihn wie früher umzudrehen und zu probieren, ob er brummt. Ich glaube aber, er brummt. Es ist still und ein bisschen düster hier oben an diesem warmen Mai-Sonntag, an dem sich die Sonne hinter einem Schleier versteckt hat. Spielzeug unterm Dach, irgendetwas zwischen freundlicher Erinnerung und staubiger Vergangenheit. Das Karussell in der Zimmerecke leuchtet aus bunten Plastelampen und dreht sich. Lautlos und viel zu schnell.
Bäcker Ihlenfeldt hat mich hergeschickt. Als er gerade die Brote in den Ofen schob, gegenüber auf dem Hof vom Heimatmuseum, fragte er mich, von welcher Zeitung ich sei. Weil ich doch so eine große Kamera hätte. Ich sagte ihm meinen Namen. Den er aus der Zeitung kannte. Das wusste ich, weil ich ihn mal angerufen habe, um ihm zu sagen, dass sein Blechkuchen so fantastisch schmeckt. Einfach so, weil der Kuchen toll ist und weil man sich ja auch bei jemandem meldet, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Wobei: Hätte mir der Kuchen nicht geschmeckt, hätte ich nicht angerufen. So habe ich es aber getan. Habe ihm meinen Namen gesagt und gelacht und seinen Kuchen gelobt. Er lachte auch und sagte, er wisse wer ich bin und dass er meine Beiträge gern liest. So, und nun habe jeder dem anderen etwas Schönes gesagt. Als ich mich ihm am Backofen vorstellte, erklärte er mir, was ich mir alles angucken könne, die ganzen Räume im Heimatmuseum und oben die Bilder vom Maler Kranzpiller und gegenüber, dort, wo vor über 100 Jahren ein anderer Maler wohnte, ist noch eine Spielzeugausstellung. Alles offen, alles zu sehen heute. Und ein Trödelmarkt. Gedrechselter Blumenständer neben Honecker-Bild. Klingt nach Klischee, ist aber so. Heute ist ein Fest in Fürstenwerder, Museumsfest. Und wenn ich mir alles angesehen habe, so Bäcker Ihlenfeldt, soll ich ihm sagen, wie ich es finde.
„Wenn bei uns irgendwo ein Fenster eingeschlagen wird und offen steht, dann haben wir mehr Angst vor dem, was entkommen sein könnte, als vor dem, der vielleicht eingestiegen ist“
Für ein Fest in Fürstenwerder, genauer: für eine sehr bemerkenswert beschriebene Nacht „Vor dem Fest“, hat vor nicht allzu langer Zeit ein junger Schriftsteller einige Preise bekommen. Und obwohl Fürstenwerder in diesem Buch Fürstenfelde heißt, wusste jeder schnell, was und auch wer gemeint ist. Bäcker Ihlenfeldt alias Zieschke, Maler Andreas Kranzpiller, aus dem die nachtblinde Malerin Frau Kranz wurde. Die das malt, was sie weiß. Die Keramikerin, der Künstler, die Buchhandlung, die Seen. Alles da. Seit dem Buch passieren in Fürstenwerder Dinge, die es vorher so nicht gab. Menschen kommen aus der Hauptstadt, stellen ihre Autos an der Straße ab und laufen mit einem Roman in der Hand durch den Ort, der bis vor 200 Jahren Stadt war. Bis er zu klein und zu unbedeutend wurde. Die zwei Seen sind geblieben, der Dammsee und der Große See. In dem ist der Fährmann ertrunken. Im Buch geht es um Fürstenfelde, das seine Geschichten im „Haus der Heimat“ mit einem Zahlenschloss sichert. Denn, so heißt es dort, „wenn bei uns irgendwo ein Fenster eingeschlagen wird und offen steht, dann haben wir mehr Angst vor dem, was entkommen sein könnte, als vor dem, der vielleicht eingestiegen ist“. Vielleicht hat auch deshalb dieser Roman so viel Aufmerksamkeit gefunden. Wegen der Geschichten, die sonst niemand erzählt. Bis ein junger Schriftsteller zweimal in den Ort kommt. Und die Geschichten raus lässt.
Weil er so ein guter Erzähler ist, müssen seinetwegen Feuilleton-Schreiber gucken, wo dieses Fürstenwerder-Fürstenfelde eigentlich liegt. Zu ihrer großen Freude lokalisieren sie es in der Uckermark. „Ausgerechnet in der Uckermark“, werden sie schreiben, „wo doch alles gleich den Ruch des Superprovinziellen, Superdeutschen, Super-Ostigen hat“. Uckermark, wo „Makrokosmos sich im Mickrigkosmos spiegelt“. Hach. „Hunderttausend Mückeneier pro Quadratmeter Sumpf. Einwohnerzahl: Ungerade. Keine Ausländer, es sei denn, man zählt Rheinländer dazu. Mehr Feuerwehrmänner als Neonazis. Das ist Fürstenfelde in der Uckermark“. Oder das hier: „So richtig traurig aber fühlt sich in diesem Roman nichts an, trotz der Landflucht und der Verlassenheit, trotz der mitunter traurigen Schicksale der Dorfbewohner, trotz unseligster DDR-Vergangenheit, trotz der Depressionen von Frau Schwermuth“. Ein „Sommernachtstraum mit Ost-Proleten“. Da kommt man doch gern mit dem Buch unterm Arm. Landlust in der Geisterbahn. Oder so. Schließlich haben die Fachleute nach Saša Stanišić herausgefunden: „Dorfgeschichten sind keine Provinzliteratur“.
Jetzt ist kein Schriftsteller da und niemand vom Feuilleton. Nur ein paar Berliner. Bäcker Ihlenfeldt backt Brot (nicht ohne zu bemerken, dass andernorts mit dem Steinofenbrot geschummelt wird, weil es vorgebacken wird) und bereitet sich auf die Auktion Kunst und Kuriosa vor. Die gibt es, wie im Buch, aber schon viel länger. Im Heimatmuseum in der Ernst-Thälmann-Straße ist nichts mit Zahlenschlössern gesichert, die Türen und Fenster stehen weit offen. Hier erzählen Ofenkacheln und Ziegelsteine, Frisierhauben und der Schuhmacher Stachelhaus (könnte auch ein Name aus einem Roman sein, der heißt aber wirklich so) aus der nahe gelegenen Kreisstadt von dem, was früher so war. Und von dem, was heute nicht ist. Der Hufschmied beschlägt einen geduldigen Kaltblüter und für 14 Uhr ist das Spritzen mit der alten Feuerwehrspritze angekündigt. Da bin ich aber schon am Großen See. An dem es nie einen Fährmann gab, statt dessen einen Bootsverleih. Hier rudert man selbst.
Irgendwo habe ich gelesen, der Roman habe Fürstenwerder „Stolz gegeben“. Ich mag „Vor dem Fest“. Sehr sogar. Aber das mit dem Stolz sehe ich nicht so. Ein Ort wie Fürstenwerder braucht dazu keine Romane. Dort ist man sich der eigenen Geschichten bewusst, auch wenn man sie nur selten erzählt. Zumindest mit Worten. Die liebevollen Sammlungen vergangener Handwerkszeiten, die Bilder alter und jüngerer Maler, die Puppenhäuser, all die Kunstwerke und kuriosen Dinge, die auch heute Nachmittag wieder unter den Hammer kommen – sie alle sprechen ihre ganz eigene Sprache. Da wird erinnert und geflunkert und über sich selbst gelacht. Und über den Fremden, der die Geschichten glaubt und der mir auf der Straße entgegenkommt. Mit einem gedrechselten Blumenständer in der Hand.
Ein bisschen ist es wie in der Dachkammer. Puppen und Bären und Schaukelpferde, die in die Jahre gekommen sind und ein bisschen Staub angesetzt haben. Aber in deren Glasaugen es verdächtig blitzt. Das Karussell in der Ecke ist zu bunt und dreht sich zu schnell.
Das, lieber Henning Ihlenfeldt, will ich Ihnen sagen, nachdem ich alles gesehen habe. Ich hoffe, Sie hatten ein schönes Fest. Dass mir Ihr Kuchen schmeckt, das wissen Sie ja schon.