Massentourismus. 48.748 Reisende sind zu Pfingsten auf den Bahnhöfen von Lychen abgefertigt worden. War also ganz schön was los hier. Pfingsten 1910. Über diese Zahl bin ich heute beim Schreiben „gestolpert“ – und bin schnell mal vor dem nächsten Schauer mit der Kamera zum Bahnhof Hohenlychen. Doch die Draisinefahrer des langen Wochenendes hatten ihre muskelgetriebenen Eisenbahnersatzfahrzeuge längst wieder in die Depots gebracht. Nix da mit Massenabfertigung. Und diese Draisinen sind seit 20 Jahren schließlich das einzige Verkehrsmittel auf den Gleisen zwischen Fürstenberg und Templin. Nun nehme ich an, dass zu jenem Pfingstfest vor 106 Jahren nicht fast 50.000 Menschen nach Lychen kamen. Die einen kamen, die anderen fuhren wieder, die dritten stiegen vielleicht um. Sie alle wurden abgefertigt. Trotzdem muss ganz schön was los gewesen sein. Ich war neugierig und habe mal in den Archiven geblättert, was sich in jener Zeit so tat im Fremdenverkehr. Und das war eine ganze Menge. 1899 wurde Lychen mit der Inbetriebnahme der Eisenbahnverbindung auch auf dem Schienenweg an die große, weite Welt angeschlossen. Bis dahin gab es fünf Hotels in Lychen, die den Bedarf deckten, schrieb Klaus Dickow vor neun Jahren in der Neuen Lychener Zeitung in einer mehrteiligen Abhandlung über die Entwicklung des Tourismus im Ort zwischen den sieben Seen. Weiter heißt es dort:
Das änderte sich ab etwa 1885. Es erschienen mehr und mehr Gäste, vor allem aus Berlin, die von der beinahe unberührten Natur und vielleicht auch von der kleinstädtischen Idylle Lychens angetan waren. Immerhin war Berlin mit seinem enormen Wachstum schon hektisch geworden und man konnte vom Stettiner Bahnhof aus in einer guten Stunde Fahrzeit bis Fürstenberg dieser Hektik schnell für ein paar Tage entfliehen. Erst waren es Pfingstausflüge, dann Wochenendaufenthalte und bald war es auch Mode, die Gattin mit den Kindern für ein paar Tage in die Sommerfrische zu schicken. Welche Anziehungskraft Lychen zu dieser Zeit besaß, wird auch deutlich, wenn man sieht, dass bereits kurz nach der Jahrhundertwende die heutige Berliner Straße, früher Bismarck-Straße, mit den villenartigen Häusern bis zum Bahnhof hin bebaut war. Ebenso sah es am Oberpfuhl, vor dem Stargarder Tor aus. Es waren überwiegend Geschäftsleute und Pensionäre aus Berlin, die sich die Wassergrundstücke oder zumindest wassernahen Grundstücke kauften. Fast gleichzeitig entstanden in Hohenlychen die Heilanstalten, die für die damals noch weit verbreitete Tuberkulose Linderung und Heilung bringen sollten. Der Aufschwung trug den Aufschwung – Lychen war einfach „in“ und die Stadt erlebte eine Blütezeit.
Es entstanden in dieser Zeit nicht nur zahlreiche neue Hotels, Restaurants und Pensionen, auch die Einwohnerzahl stieg deutlich an. Von 2300 im Jahr 1875 auf 3200 im Jahr 1910, 15 Jahre später waren es fast 3900 und 1939, vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, mehr als 4300. Eine Abhandlung über die „Provinz Brandenburg im Kaiserreich“ ordnet Lychen neben Rheinsberg, Buckow, Lübben und Bad Freienwalde ein, die als Kleinstädte um die Jahrhundertwende besonders vom Fremdenverkehr profitierten und zwischen 1875 und 1919 einen Bevölkerungszuwachs von mindestens 30 Prozent verzeichneten. (Brandenburgische Geschichte, Akademieverlag, 1995). Ortschronist Eberhard Kaulich nennt in einem Beitrag ebenfalls in der Neuen Lychener Zeitung auch konkrete Zahlen. Danach habe 1935 Bürgermeister Dr. Rattey von 61.000 Übernachtungen berichtet. Und das, wie es heißt, obwohl in der „Hauptsaison der Himmel meist bedeckt“ gewesen sei. 260 Reichsmark Kurtaxe hatte Lychen damals eingenommen. Ein Thema, bei dem besagter Dr. Rattey übrigens Spezialist gewesen sein soll, hatte er doch seinen Doktortitel für eine Abhandlung über das „Kurtaxrecht der preußischen Luft- und klimatischen Kurorte“ erhalten. Einer gewissen Erheiterung konnte ich mich angesichts dieser Tatsache und meiner noch sehr lebhaften Erinnerungen an das jahrelange Hin und Her zum Thema Tourismusabgabe in Lychen nicht erwehren.
Nein, ich will jetzt nicht den „guten, alten Zeiten“ hinterhertrauern. Weil sie nicht nur gut waren. Ich weiß nicht einmal, ob ich die fast 50.000 Bahnreisenden zu Pfingsten vermisse. Aber wenn man sieht, was hier mal ging und auch, auf welchem Niveau die touristische Infrastruktur war, wünschte ich mir in manchen Dingen doch etwas mehr Entschlossenheit. Und freue mich über neue, gute Angebote, die hier gerade im Entstehen sind.
2 Kommentare
Hallo Frau Bruck,
ich stelle mir eben vor, wie es wohl wäre, wenn man diese Bahnhofssituation Pfingsten 1910, wie so mancherorts bereits praktiziert, einmal nachstellt. …
Was hat die Menschen damals bewegt, warum fuhren diese nach Lychen, was trugen sie, was hatten sie dabei. Eigentlich stelle ich mir das sehr lebhaft vor, Frauen in langen Kleidern mit Hut und Sonnenschirm, Männer im feinen Sonntagszwirn tragen Picknickkörbe und herumwuselnde lachenende Kinder dazwischen ein bellender Spitz.
Eventuell noch Dampflokgetöse, ein schriller Pfeifton, Motorengeräusche im Landeanflug befindlicher Wasserflugzeuge aus Berlin kommend. …Oder war das später ?
Vielleicht finden Sie passendes Bildmaterial aus der damaligen Zeit. Es ist bestimmt interessant.
Viele Grüße, Marina Beckert
Liebe Frau Beckert, ein sehr schönes Bild und eine sehr schöne Idee … Und Eberhard Kaulich, der sich intensiv mit der Stadtgeschichte in Lychen befasst, hat bestimmt Fotos. Vielleicht kann ich demnächst mal einige im Blog zeigen.