Lychen, 9. November 2017. Ich wohne direkt neben einem Hügel vor der einstigen Lychener Stadtmauer. Ein Hügel, auf dem ein Gedenkstein unter alten Eichen davon erzählt, dass hier der jüdische Friedhof des Ortes war. Ich möchte heute an Hilde und an eine Geschichte erinnern. Eine, die etwas mit Erinnern und Vergessen, mit Verantwortung und Verdrängung zu tun hat.
Lychen, 9. November 1938. In Deutschland brennen Synagogen. Ein Trupp Nazis aus dem benachbarten Templin zieht nach Lychen. Eine Synagoge gibt es hier nicht, aber gemeinsam mit Lychener Gesinnungsgenossen schänden sie den jüdischen Friedhof am Oberpfuhl. Und das Grab von Siegmund Cohrs, jüdischer Fabrikant und Lychener Ehrenbürger, der neben dem von ihm begründeten Cohrsstift am Nesselpfuhl beigesetzt ist.
New York, Frühjahr 2013. Bei einem Vortrag über „Deutsche Juden in Berlin“ treffen sich die deutsche Journalistin Daniela Reinsch und die 102-jährige Hilde Singer. Die 1911 in Deutschland geborene Jüdin war 1935 aus Deutschland geflohen und lebt seit 1940 in den USA. Sie wird wenig später zu Daniela Reinsch sagen: „Ich kenne seit Jahrzehnten keine Menschenseele mehr, mit der ich Deutsch spreche.“ Die Frauen treffen sich von da an regelmäßig. Daniela Reinsch recherchiert.

Hilde Singer 2013 in New York. Foto: Daniela Reinsch
Um Hilde, die bei ihrer Flucht nicht nur ihre Eltern, sondern auch alle Fotos und Erinnerungsstücke in Deutschland ließ, ein Stück der eigenen Familiengeschichte zurückzugeben. Als sie Hilde einmal fragte, ob sie noch einmal nach Berlin zurückkehren möchte, hörte sie: „Aber ich kenne ja keine Menschenseele mehr da – alle, die ich kannte, sind entweder ausgewandert oder wurden erschlagen.“
Daniela Reinsch findet heraus, dass die Spuren von Hildes Familie auch in die Uckermark führen. Hildes „Onkel Siegmund“, der als Salomon Cohn geborene Siegmund Cohrs, hatte sich um den Aufbau der Heilstätten Hohenlychen und die Betreuung tuberkulosekranker Kinder verdient gemacht. Der Berliner Fabrikant und Kommerzienrat, Begründer des nach ihm benannten Cohrs-Stifts in Lychen, war seit 1914 Ehrenbürger des Ortes. Im November 1938 schändeten Nazis seine Grabstätte und strichen ihn von der Liste der Ehrenbürger. Ein Unrecht, an dem bis 2013 niemand in Lychen etwas geändert hatte. Ich bekam damals in der Redaktion des Uckermark Kurier in Templin einen Anruf von Daniela Reinsch. Sie erzählte mir die Geschichte und übermittelte mir Hildes Bitte: „Gebt ihm seine Ehre wieder“.
Seit Dezember 2013 ist Siegmund Cohrs wieder Ehrenbürger von Lychen. Einstimmig hatten sie in der Stadtverordnetenversammlung dafür die Hand gehoben. Die Frage, warum 75 Jahre vergehen mussten, blieb unbeantwortet. In einem Brief hatte sich Hilde Singer bedankt: „Es war eine große Überraschung und Freude für mich, dass wir am Ende meines Lebens gemeinsam ein Unrecht wieder gut machen konnten.“ Daniela Reinsch schrieb mir, dass Hilde Singer an dem Tag, als sie ihr die Briefe diktierte, „einen guten Tag hatte, viel lachte und von Lychen und ihrem Großonkel erzählte.“ Zehn Tage später starb sie.
2014 wurden für Hildes Eltern Stolpersteine vor der Jenaer Straße 21 in Berlin verlegt. Im Mai 2015 bekam auch sie einen dieser kleinen, goldenen Steine vor dem Haus, in dem sie eine glückliche und behütete Kindheit verbracht hatte. Und manchmal zu Gast war beim gestrengen Kommerzienrat Cohrs und seiner Frau, der “Tante Mieze”. Ich habe sie an diesem sonnigen Maitag 2015 alle getroffen: Hildes Kinder, Enkel, Urenkel, die aus New York nach Berlin gekommen waren. Daniela Reinsch, die diese Geschichte ins Rollen gebracht hatte. Ein besonderer Tag.

Hildes Kinder, Enkel und Urenkel und Journalistin Daniela Reinsch (2.v.l.)
Und heute ist der 9. November. Hilde, ich habe Dich und Deine Geschichte nicht vergessen.
Schreibe einen Kommentar