Ein bisschen kommt er mir vor wie Forrest Gump, dieser John Franklin. Der zu langsam ist, den Ball zu fangen und deshalb die Leine hält, während die Anderen, die Schnelleren, spielen. Der immer anders bleiben wird als die Schnellen. Der (trotzdem) Kapitän wird und Polarforscher und die Nordwestpassage sucht und findet. Die aber – wegen des Eises – unpassierbar ist. John Franklin, den Sten Nadolny 136 Jahre nach dessen Tod in der kanadischen Arktis zum Protagonisten seines Romans „Die Entdeckung der Langsamkeit“ macht. Die Langsamkeit als Prinzip. Eine Provokation in schnellen Zeiten. Und als Thomas Rühmann am Sonntag in der Lychener Mühle aus diesem Roman las, nein, ihn zelebrierte, da kam er mir ab und zu vor wie Forrest Gump, dieser John Franklin. Vielleicht, weil Rühmann das eine und andere Mal sprach wie Forrest Gump, oder besser, wie dessen deutsche Film-Stimme Arne Elsholtz. Vielleicht aber auch, weil es eine Figur ist, die mit dem eigenen Anderssein das Oberflächliche, das Schnelle, das Unlogische des „Normalen“ entlarvt. Forrest Gump genauso wie Nadolnys John Franklin. Oder Rühmanns John Franklin?
Thomas Rühmann also spricht, singt, schweigt den Protagonisten und dessen Geschichte spannend, eindringlich, fesselnd. Grandios bedient er sich seines wichtigsten Handwerkszeugs: seiner Stimme. Schreit die herzzerreißenden Disharmonien des Krieges heraus, flüstert die Verletzlichkeit der Seele. Begleitet, untermalt, vorangetrieben vom genialen Tobias Morgenstern, der seinem Akkordeon für unmöglich gehaltene Töne entlockt, der mit seinem Instrument das Meer malen kann und den Sturm und das Gefecht und Eis. Viel Eis. Und so treiben sich die beiden Virtuosen gegenseitig an und machen ihre Zuhörer atemlos. Spielen so überaus gekonnt auf der Klaviatur der Pausen und singen Gundi Gundermanns Lieder, als seien sie der Soundtrack zur Geschichte von John. Verblüffend. Und immer wieder wächst das Gras.
Das Richtige konnte man schon tun, aber es war immer möglich, dass alle anderen es für das Falsche hielten. Sie konnten sogar recht haben.
Ich sehe mich um. Wir sind in der Kaffeemühle. 80 Menschen auf 80 Klappstühlen. Keine Bühne, die ist eine Etage tiefer in der Mühlenwirtschaft. Da passen aber 30 Leute weniger rein und Carla, die Mühlenwirtin, hätte für heute Abend 100 Karten verkaufen können. Oder noch mehr. Wer nicht ganz vorn sitzt, sieht Tobias Morgenstern nicht. Und Thomas Rühmann nur, wenn er rezitiert. Denn das tut er im Stehen. Ab und zu steht mal jemand auf, um zu gucken. Das Publikum ist sehr gemischt. Lychener, Templiner, Berliner. Jüngere und Ältere. Ich glaube, es sind mehr Frauen als Männer. Ich glaube auch, dass einige noch nie was gehört haben von der Entdeckung der Langsamkeit. Und vor allem hier sind, weil sie Dr. Heilmann sehen wollen. Den Fernseh-Oberarzt aus der Sachsenklinik, den Rühmann seit Jahren spielt. Aber jetzt bekommen sie nicht den smarten Doktor, jetzt bekommen sie John Franklin. Gedanken zur Langsamkeit, zur Vergeblichkeit, zur Vergänglichkeit. Keine leichte Kost. Und sie wissen jetzt, dass Morgenstern, den sie vielleicht schon mit romantischen Sonnenuntergangsklängen auf dem Musikfloß von Treibholz oder mit brasilianischen Rhythmen in der vorigen Adventszeit in der Mühle erlebt haben, dass der auch schräg und laut und weh tun kann. Großartiges Theater. Als die letzten Töne verklungen und die letzten Worte gesprochen sind, herrscht Schweigen. Nur unterbrochen vom Klack-Klack-Klack des Metronoms. Die Zeit läuft. Die Nordwestpassage, der unnütze große Traum Franklins, ist seit 2009 eisfrei. Klack … Das wars. Sagt Rühmann. Erlösendes Klatschen. Euphorisch fast. Zwei-, drei-, viermal treten sie auf die nicht vorhandene Bühne vor den nicht vorhandenen Vorhang und verbeugen sich. Bekommen je einen Apfel. Von den Bäumen im Garten der Mühlenwirtschaft, vor einem Jahr gepflanzt. Und tragen schon Äpfel. Von wegen langsam.
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