Während ich das hier schreibe, leuchtet der (Fast-)Vollmond durch das schräge Dachfenster auf die Tastatur. (Ich weiß nicht, ob das Auswirkungen auf die Zurechnungsfähigkeit beim Schreiben hat. Lassen wir es drauf ankommen.) Der erste Frühlingsvollmond. Das ist der, der bestimmt, wann Ostern ist.
Frühlingsvollmond
Am Sonntag danach nämlich. Dass bei uns im „hohen Norden“ dieser vorösterliche Vollmond wie in diesem Jahr auf blühende Tulpen und Magnolien scheint, ist längst nicht immer so. Ich kann mich erinnern, dass beim Anradeln vor vier Jahren auf dem Uckermärkischen Radrundweg mehrere Zentimeter Schnee lagen. Und auch daran, wie schön es war, dass am Kirchlein im Grünen an diesem Tag die ersten Schneeglöckchen ihre Köpfe durch den Matsch steckten. An einem 12. April!
Es ist hart, wenn der Frühling so lange auf sich warten lässt. Nach 26 Jahren Uckermark kann ich sagen: Der Frühling hier ist etwas Besonderes. Um das zu verstehen, muss man ein paar Monate zurückblicken.
Mit ein bisschen Glück ist der Oktober hier noch sonnig und bunt. Ich will keine dieser ewig hinkenden Vergleiche mit anderen schönen Gegenden dieser Welt bemühen, aber so ein kleiner Indian Summer in der Uckermark, der ist was für die Augen, für die Kameras und fürs Herz. Wenn das Buchenlaub goldgelb leuchtet, die Seen ihre letzte Wärme ausdampfen, die Pilzsammler an gut gehütete Geheimplätze ziehen. Wenn der jährlich am Deutschen Einheitstag veranstaltete Regionalmarkt zeigt, wie es auf Wochenmärkten in der Uckermark das ganze Jahr über aussehen könnte.
Doch wenn sich nach dem (mit einem bisschen Glück) sonnigen Oktober auch der letzte Berliner wieder hinter den Soja-Macchiato-Äquator (ja, ich weiß, ein Klischee, aber ich kann einfach nicht die Löschen-Taste drücken) zurückgekehrt ist, zieht hier Stille ein. So eine richtige, echte Stille. In der auf den Fluren die rilkeschen Winde wehen. Und wer kein Haus hat, der lässt es jetzt tatsächlich bleiben. Eine Zeit, in der man Statistik körperlich spüren kann. Was es nämlich heißt, dass weniger als 40 Menschen auf jedem der 3000 uckermärkischen Quadratkilometer leben. Im Durchschnitt. Auf manchem Kilometer mal Kilometer großen Stück sind es deutlich mehr. Und auf manch einem eben sehr viel weniger.
Uckermark im Winter
November, das sind vor allem Nebel und Krähen. Das sind geschlossene Eiscafés, autoleere Nettoparkplätze, menschenleere Marktplätze. Es gibt wenig, was vom Arbeiten ablenkt. An den zeitig einsetzenden Abenden warme Socken, Musik hören, Lesen. Advent ist hier nicht unbedingt Ankommen. Wer kann, haut ab. Auffällig oft werden jetzt Sommerbilder geguckt und Kanaren gegoogelt. Ansonsten Geschäftigkeit. Alle haben zu tun, was vor dem Jahresende unbedingt getan werden muss. Alle Jahre wieder. Schließlich werden die Nettoparkplätze für ein paar Tage wieder voller. Müde Menschen fliehen Ende Dezember vor dem Trubel der Großstadt. Kommen an ihren Sommer-Sehnsuchtsort, um zu gucken, wie er im Winter aussieht. Wie sie ist, die Uckermark, ohne Laub, ohne Sonne, ohne Kanus. Wenn sie wieder abreisen, haben wir schon mindestens acht, neun stille, graue Wochen hinter uns. Und das dicke Ende noch vor uns. Das so dick sein kann, dass es Mitte April erst Schneeglöckchen gibt.
Im langen uckermärkischen Winter muss man die Stille ertragen können. Und sich selbst. Wer also in lauen Sommernächten am Seeufer beschließt, in die Uckermark zu ziehen, dem rate ich, im dauergrauen Januar oder im zäh dahinnieselnden Februar wiederzukommen. Und – ganz wichtig – eine Weile zu bleiben.
„Wenn du mit einem Fuß auf sieben Gänseblümchen treten kannst, ist Frühling“, heißt es. Da das auch mit Schuhgröße 40 mittlerweile kein Problem mehr ist, ist jetzt also Frühling. Die Zeiger der Uhren sind vorgestellt, vor Garagen werden Grills und Saisonkennzeichen geputzt.
Frühling in der Uckermark
Wer nicht mehr länger mit sich sein will, hat es jetzt leichter. Man trifft sich wieder ohne sich zu verabreden. Die überdeutliche Stille der vergangenen Monate ist vorbei. Wird übertönt vom Schnattern und Zwitschern, von Rasenmähern und Motorsägen. Es sind diese untrüglichen Frühlingszeichen, die ich zum Beispiel in Lychen so liebe: Die Flöße bei Treibholz haben wieder Segeltuchdächer, die Stühle in der Kunstpause und der Mühlenwirtschaft stehen draußen. Termine für Konzerte, Ausstellungen und offene Gärten machen die Runde. Kraniche, Störche und andere Winterausreißer sind zurück.
Und die Stadtmenschen. Wem von Oktober bis Ostern, also die ganze lange Winterreifensaison, nur bekannte Gesichter begegnet sind, dem fallen sie sofort ins Auge. Ein bisschen blasser sind sie und ein bisschen anders gekleidet. Haben einen anderen, irgendwie versonneneren Blick auf die knospende Landschaft. Kann gut sein, dass sie gerade zum ersten Mal mit dem Auto gekommen sind, weil einige Busverbindungen den langen uckermärkischen Winter nicht überlebt haben. Gemeinsam mit den Hiergebliebenen und den zu verschiedenen Zeiten Hergekommenen wandern sie an Seeufern entlang, die hoffentlich noch öffentlich zugänglich sein werden, wenn in diesem Jahr nach dem uckermärkischen der Indian Summer einsetzt. Frühling und Sommer in der Uckermark, das ist die Zeit, in der man gern zeigt, was man hat und ein bisschen stolz ist darauf. Ja, schön hier, nicht? Wie lange musstet ihr denn fahren, um hierher zu kommen?
Frühling und Sommer, das ist auch die Zeit, in der die Uckermark Kraft zu haben scheint, über den ihr medial zugedachten Status als problembehaftete Provinz hinauszuwachsen. Woran übrigens auch Stadtmenschen nicht unschuldig sind. An beidem, am viel zitierten Status und daran, dass sich etwas tut. Waren es doch von jeher Zugezogene, die hier für Impulse sorgten. Slawen, Hugenotten, Sachsen.
Heute sind es viele, die aus den unterschiedlichsten Gründen den Weg aus der Großstadt aufs (nicht zu weit entfernte) Land gesucht und gefunden haben. Und die auch in diesem beginnenden Frühjahr hier durchstarten. Fischmann Micha zum Beispiel, der sich in Gerswalde Fischen, Glut und Spänen widmet. Oder Waldemar, der mit seinem kreativen it-Team auf die hippe Fabriketage in Berlin verzichtet und die Fäden aus der Uckermark zieht. Sich über Funklöcher ärgert wie andere über Schlaglöcher, noch immer auf den tollen Hecht aus dem Mündesee wartet und trotzdem der Meinung ist, hier am richtigen Ort zu sein. Oder Gaby, die große Bühnen gegen kleinen Garten getauscht hat und jetzt Geschichten aus Gemeindevertreterversammlungen und anderen Hühnerställen bloggt. Und damit bewusst oder unbewusst zum Mittler „zwischen den Welten“ wird.
Deshalb mag ich den Frühling in der Uckermark so. Weil er immer wieder aufs Neue ein bisschen träumen lässt, von dem, was hier zwischen Gänseblümchen noch so alles wachsen könnte. Und natürlich: Weil er einfach nur schön ist.
Das Fernsehen war da. Der blaue Robur-Bus des rbb, der kommt, wenn es irgendwo im Land lokalpolitisch knistert. Wie in Lychen. Wo es Streit gibt um ein Ufergrundstück am Zenssee, dessen Verkauf die Stadt vor knapp neun Jahren beschlossen hatte. Es soll dem benachbarten Heilstättengelände zugeschlagen werden und aus diesem am Wasser liegenden Grundstück ein Grundstück mit direktem und privatem Wasserzugang machen.
Dieses Thema, in der Vergangenheit allzu oft mit Verweis auf Vertragsgeheimnisse in nichtöffentlichen Sitzungen verhandelt und gerüchteweise durch die Stadt wabernd, wurde jetzt also vor laufenden Fernsehkameras und Mikrofonen diskutiert. Eine bemerkenswerte Entwicklung. Zu verdanken der Bürgerinitiative, die den jetzt offensichtlich unmittelbar bevorstehenden Verkauf dieses Grundstücks samt Badestelle und Wanderweg verhindern will. Und deshalb eine öffentliche Debatte über dieses sehr öffentliche Thema führen möchte. Ihr Ziel hatte die Bürgerinitiative den Lychenern kürzlich in einer Postwurfsendung mitgeteilt: Eine neue Bürgerversammlung soll stattfinden, ein neuer Vertrag soll her. Weil der freie Zugang zum Wasser ein hohes Gut ist und weil sich die Nutzung des Heilstättengeländes geändert hat.
Ein munteres Völkchen erwartete den blauen Bus am Rande des ehemaligen Heilstättengeländes. In Lychen fällt es auf, wenn mehr Menschen zusammenstehen als in einer Supermarkschlange. Die einen – diejenigen, die den Bus gerufen hatten – sind ein bisschen aufgeregt, haben gemalte Plakate mitgebracht, Aufkleber und ein Spiel. „Du siehst das Wasser und kommst nicht ran? Um schneller zu sein, darfst du noch einmal würfeln…“ und so etwas. Schön, wenn Protest bei aller Deutlichkeit freundlich ist und Humor hat. Die „anderen“, das sind vor allem die Stadtverordneten, die im Verkauf des Ufergrundstücks nach wie vor einen Vorteil für Lychen sehen. Weil die Vorhaben des Investors aus ihrer Sicht mehr Pluspunkte bringen. Sie haben Pläne in der Tasche, um dessen Absichten erklären zu können. Um dann kurzzeitig erstaunt zu reagieren, als ihnen der souverän agierende rbb-Reporter Stefan Sperfeld auf einen entsprechenden Einwurf mitteilt, dass eben jener Investor im Vorfeld nicht auf seine Anfragen – auch nicht auf seinen Wunsch nach einem Hintergrundgespräch – reagiert habe.
Und so wird in der Frühlingssonne auf der vielleicht bald nicht mehr öffentlichen Badestelle diskutiert. „Der Vertrag ist gültig und muss erfüllt werden, wenn der Investor seine Bedingungen erfüllt“, argumentieren Stadtverordnete und die stellvertretende Bürgermeisterin. „Die Voraussetzungen haben sich geändert, wir wollen, dass mehr für Lychen und die Lychener bleibt“, sagen die mit den Plakaten. „Ich bin wegen der so selten gewordenen unberührten Natur und den Möglichkeiten, hier direkt am Wasser zu sein, nach Lychen gekommen“, sagt einer. Um zu hören: „Wir brauchen mehr zahlende Gäste und nur wegen des Zenssees kommt doch keiner“. Einer, der es weiß, betont, dass in der internationalen Spitzenhotellerie aktuell gerade das Gegenteil stattfindet: Statt die Öffentlichkeit aus Hotels und Hotelanlagen auszuschließen, werden diese mit Angeboten für die einheimische Bevölkerung geöffnet. Immer wieder wird die Unsicherheit geäußert, wann welche Alternativen zu Weg und Badestelle geschaffen werden. Die Forderungen: Neu verhandeln, klare Bedingungen setzen. Und prüfen, ob sich der Vertrag von 2008 im Einklang mit geltendem Landesrecht befindet – insbesondere mit Artikel 40 der Landesverfassung, der den freien Zugang zu Gewässern festschreibt.
Der blaue Bus ist wieder gefahren. Es ist jetzt Aufgabe der Verwaltung und der Stadtverordneten, auf den an diesem Nachmittag klar geäußerten Bürgerwillen einzugehen und nicht zur Praxis der nichtöffentlichen Behandlung des Themas zurückzukehren. Was im übrigen auch nicht mehr so leicht sein dürfte. Denn neben der Bürgerinitiative hat auch das Fernsehen angekündigt: Wir bleiben dran.
Das vollständige Fotoalbum findet ihr hier.
Mir ist ganz schwindlig. Weil die Brieftauben so rasen. Seit gestern. (Nein, ich habe keinen Glühwein zum Mittag getrunken). Aber dieses Internetz ist plötzlich so schnell. Ich bin ja seit einiger Zeit um diesen komischen weißen Kasten da oben an der Straße geschlichen, auf dem in magentafarbenen Buchstaben was von Glasfaser und so steht. Und hab dann von dort rübergeschaut in Richtung Wohnung, heimischer Schreibtisch, PC und so. Und habe technisch unversiert wie ich bin, für mich versucht herauszufinden, warum da unten (Luftlinie vielleicht 200 Meter, eher weniger), aus der Datenautobahn eine eher holperige Dorfstraße geworden ist. Mich also an guten Tagen mit viel Rückenwind in der Sekunde 6 manchmal auch 7 Megabyte erreichten. 16 hätten es laut Vertrag sein sollen, „bis zu“, wie ich inzwischen gelernt hatte. Also hatte ich mich zeitweise damit abgefunden, dass es eben nicht schneller geht. Was dazu führte, dass ich mich an die Päuschen und Pausen schon gewöhnt hatte, wenn ich mal etwas größere Datenmengen auf die Reise schickte. Mehrere Bilddateien auf einmal und so etwas. Aber der verheißungsvolle Kasten da oben an der Straße ließ mir nun doch keine Ruhe. Auch wenn ich mit nicht recht erklären konnte, wenn es schneller ginge, warum dann die 16 Mb nicht ausgeschöpft werden. Ein Update auf, sagen wir, 50 Mb war für meinen Vertrag nicht vorgesehen. Anfrage beim Anbieter. Gemault wegen der Daten-Dorfstraße. Wo es doch so einen schönen weißen Kasten in Sichtweite gibt. Siehe da: Umstellung des Vertrags. Fünf Euro weniger im Monat. Dafür fünfmal schneller. Selbst mit WLAN. Funktioniert. Seitdem rasen die Brieftauben. (Großstadtmenschen, die seit Jahren 100.000er Verbindungen haben, werden gerade müde lächeln.) Vorbei mit den Pausen und Päuschen beim Bilderhochladen. Wow.
In Falkenhagen, gelegen in der Gemeinde mit dem sachlich-prosaischen Namen “Nordwestuckermark”, gibt es das Ensemble Quillo. Eine engagierte, durchaus verrückte Truppe um die engagierte, durchaus verrückte Ursel Weiler. Auf einem Vierseithof fast am Dorfrand macht Quillo Kultur. Ah ja. Auf einer Seite des Hofs wohnt die musikalische Familie, auf der anderen gibt es mit dem Haus Quillo einen wunderschönen Auftritts- und Probenraum mit Bühne und Küche und Lichtempore. Vor gut sieben Jahren habe ich für den rbb mal was über Ursel und ihre Familie in einer Reihe “Raumpioniere” gemacht. In der es um Menschen ging, die “aufs Land” ziehen und dort Häuser und das Zusammenleben retten. Hier wird Neue Musik gemacht – das ist das mit den schrägen Tönen – der sich die studierte Flötistin besonders verschrieben hat. Hier wird mit Musikerkollegen komponiert, diskutiert, geprobt, gespielt. Hier wird mit jungen Menschen Musik gemacht – ob Landmusik, Oper oder Filmmusik. Oder gleich richtig Film. In dem dann auch die Nachbarn aus dem Dorf vor der Kamera stehen. Mit denen sich Ursel noch viel mehr Miteinander wünschen würde.
Aber irgendwie gibt es am Hoftor noch immer so eine Schwelle, mit der sich einige schwer tun. “Vielleicht fürchten einige noch immer, dass – egal, was für ein Programm grad dransteht – aus irgendeiner Ecke dann doch ein schräger Flötenton kommt. Mit dem sie dann nichts anfangen können”, hat mir Ursel neulich mal lachend erklärt. Aber diejenigen, die einmal da waren oder selbst an irgendeinem “Projekt” beteiligt waren, haben diese Scheu verloren. Mit Neuer Musik können sie vielleicht nach wie vor nichts anfangen, aber sie wurden auf dem Hof Quillo zaghaft an das schöne Gefühl erinnert, gemeint zu sein und gebraucht zu werden. Gegenüber vom “Konzerthaus” im einstigen Stall ist seit einem Jahr das Kino Quillo. Immer freitags ist Wunschfilmzeit im Stammtischkino, das Programm gibts per Newsletter, der Eintritt ist frei, das Geld für das Bier wird in die Kasse des Vertrauens gelegt.
Gestern war in Falkenhagen wieder eine Premiere, eigentlich eine Uraufführung. Mit Kindern haben die Profis Musiktheatercollagen zum Thema HEIMAT auf die Bühne gebracht. Gemeinsam entwickelt, gemeinsam umgesetzt. Ursel hat organisiert und beantragt, gekocht und aufgeräumt, motiviert und getröstet, Pailetten gekauft und musiziert.Mit dabei waren auch Mädchen, deren Familien die Heimat verlassen haben und auf ganz unterschiedlichen Wegen nach Deutschland, nach Lychen gekommen sind. Jana Thum, seit einigen Jahren Lychenerin, selbst Mutter von zwei munteren Mädels, Regionalmanagerin … hat die Kinder ins Auto gepackt und ist mit ihnen in die Nordwestuckermark gefahren. Damit sie dabei sein können.
Und Jana schrieb gestern Abend kurz vor Mitternacht: “Was für ein Tag! Nach der begeisternden Premiere von ‘Heimat’ haben wir auf der Rückfahrt nochmal Bella Ciao mit den syrischen und tschetschenischen Mädels geträllert. Der Aufwand hat sich mehr als gelohnt. Danke Quillo Ensemble!!! “ In diesen Zeilen steckt so viel, dass sie mich zu diesen, meinen Sätzen veranlassen. Hinzufügen kann und will ich ihnen nichts mehr.
Die Tür zur Dachwohnung steht offen. Ein großes Schaukelpferd mit Glasaugen, Puppen in einem weißen Gitterbett, in einem alten Hochstuhl ein Teddy. So ein alter, holzwollegefüllter. Ich fotografiere ihn, statt ihn wie früher umzudrehen und zu probieren, ob er brummt. Ich glaube aber, er brummt. Es ist still und ein bisschen düster hier oben an diesem warmen Mai-Sonntag, an dem sich die Sonne hinter einem Schleier versteckt hat. Spielzeug unterm Dach, irgendetwas zwischen freundlicher Erinnerung und staubiger Vergangenheit. Das Karussell in der Zimmerecke leuchtet aus bunten Plastelampen und dreht sich. Lautlos und viel zu schnell.
Bäcker Ihlenfeldt hat mich hergeschickt. Als er gerade die Brote in den Ofen schob, gegenüber auf dem Hof vom Heimatmuseum, fragte er mich, von welcher Zeitung ich sei. Weil ich doch so eine große Kamera hätte. Ich sagte ihm meinen Namen. Den er aus der Zeitung kannte. Das wusste ich, weil ich ihn mal angerufen habe, um ihm zu sagen, dass sein Blechkuchen so fantastisch schmeckt. Einfach so, weil der Kuchen toll ist und weil man sich ja auch bei jemandem meldet, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Wobei: Hätte mir der Kuchen nicht geschmeckt, hätte ich nicht angerufen. So habe ich es aber getan. Habe ihm meinen Namen gesagt und gelacht und seinen Kuchen gelobt. Er lachte auch und sagte, er wisse wer ich bin und dass er meine Beiträge gern liest. So, und nun habe jeder dem anderen etwas Schönes gesagt. Als ich mich ihm am Backofen vorstellte, erklärte er mir, was ich mir alles angucken könne, die ganzen Räume im Heimatmuseum und oben die Bilder vom Maler Kranzpiller und gegenüber, dort, wo vor über 100 Jahren ein anderer Maler wohnte, ist noch eine Spielzeugausstellung. Alles offen, alles zu sehen heute. Und ein Trödelmarkt. Gedrechselter Blumenständer neben Honecker-Bild. Klingt nach Klischee, ist aber so. Heute ist ein Fest in Fürstenwerder, Museumsfest. Und wenn ich mir alles angesehen habe, so Bäcker Ihlenfeldt, soll ich ihm sagen, wie ich es finde.
„Wenn bei uns irgendwo ein Fenster eingeschlagen wird und offen steht, dann haben wir mehr Angst vor dem, was entkommen sein könnte, als vor dem, der vielleicht eingestiegen ist“
Für ein Fest in Fürstenwerder, genauer: für eine sehr bemerkenswert beschriebene Nacht „Vor dem Fest“, hat vor nicht allzu langer Zeit ein junger Schriftsteller einige Preise bekommen. Und obwohl Fürstenwerder in diesem Buch Fürstenfelde heißt, wusste jeder schnell, was und auch wer gemeint ist. Bäcker Ihlenfeldt alias Zieschke, Maler Andreas Kranzpiller, aus dem die nachtblinde Malerin Frau Kranz wurde. Die das malt, was sie weiß. Die Keramikerin, der Künstler, die Buchhandlung, die Seen. Alles da. Seit dem Buch passieren in Fürstenwerder Dinge, die es vorher so nicht gab. Menschen kommen aus der Hauptstadt, stellen ihre Autos an der Straße ab und laufen mit einem Roman in der Hand durch den Ort, der bis vor 200 Jahren Stadt war. Bis er zu klein und zu unbedeutend wurde. Die zwei Seen sind geblieben, der Dammsee und der Große See. In dem ist der Fährmann ertrunken. Im Buch geht es um Fürstenfelde, das seine Geschichten im „Haus der Heimat“ mit einem Zahlenschloss sichert. Denn, so heißt es dort, „wenn bei uns irgendwo ein Fenster eingeschlagen wird und offen steht, dann haben wir mehr Angst vor dem, was entkommen sein könnte, als vor dem, der vielleicht eingestiegen ist“. Vielleicht hat auch deshalb dieser Roman so viel Aufmerksamkeit gefunden. Wegen der Geschichten, die sonst niemand erzählt. Bis ein junger Schriftsteller zweimal in den Ort kommt. Und die Geschichten raus lässt.
Weil er so ein guter Erzähler ist, müssen seinetwegen Feuilleton-Schreiber gucken, wo dieses Fürstenwerder-Fürstenfelde eigentlich liegt. Zu ihrer großen Freude lokalisieren sie es in der Uckermark. „Ausgerechnet in der Uckermark“, werden sie schreiben, „wo doch alles gleich den Ruch des Superprovinziellen, Superdeutschen, Super-Ostigen hat“. Uckermark, wo „Makrokosmos sich im Mickrigkosmos spiegelt“. Hach. „Hunderttausend Mückeneier pro Quadratmeter Sumpf. Einwohnerzahl: Ungerade. Keine Ausländer, es sei denn, man zählt Rheinländer dazu. Mehr Feuerwehrmänner als Neonazis. Das ist Fürstenfelde in der Uckermark“. Oder das hier: „So richtig traurig aber fühlt sich in diesem Roman nichts an, trotz der Landflucht und der Verlassenheit, trotz der mitunter traurigen Schicksale der Dorfbewohner, trotz unseligster DDR-Vergangenheit, trotz der Depressionen von Frau Schwermuth“. Ein „Sommernachtstraum mit Ost-Proleten“. Da kommt man doch gern mit dem Buch unterm Arm. Landlust in der Geisterbahn. Oder so. Schließlich haben die Fachleute nach Saša Stanišić herausgefunden: „Dorfgeschichten sind keine Provinzliteratur“.
Jetzt ist kein Schriftsteller da und niemand vom Feuilleton. Nur ein paar Berliner. Bäcker Ihlenfeldt backt Brot (nicht ohne zu bemerken, dass andernorts mit dem Steinofenbrot geschummelt wird, weil es vorgebacken wird) und bereitet sich auf die Auktion Kunst und Kuriosa vor. Die gibt es, wie im Buch, aber schon viel länger. Im Heimatmuseum in der Ernst-Thälmann-Straße ist nichts mit Zahlenschlössern gesichert, die Türen und Fenster stehen weit offen. Hier erzählen Ofenkacheln und Ziegelsteine, Frisierhauben und der Schuhmacher Stachelhaus (könnte auch ein Name aus einem Roman sein, der heißt aber wirklich so) aus der nahe gelegenen Kreisstadt von dem, was früher so war. Und von dem, was heute nicht ist. Der Hufschmied beschlägt einen geduldigen Kaltblüter und für 14 Uhr ist das Spritzen mit der alten Feuerwehrspritze angekündigt. Da bin ich aber schon am Großen See. An dem es nie einen Fährmann gab, statt dessen einen Bootsverleih. Hier rudert man selbst.
Irgendwo habe ich gelesen, der Roman habe Fürstenwerder „Stolz gegeben“. Ich mag „Vor dem Fest“. Sehr sogar. Aber das mit dem Stolz sehe ich nicht so. Ein Ort wie Fürstenwerder braucht dazu keine Romane. Dort ist man sich der eigenen Geschichten bewusst, auch wenn man sie nur selten erzählt. Zumindest mit Worten. Die liebevollen Sammlungen vergangener Handwerkszeiten, die Bilder alter und jüngerer Maler, die Puppenhäuser, all die Kunstwerke und kuriosen Dinge, die auch heute Nachmittag wieder unter den Hammer kommen – sie alle sprechen ihre ganz eigene Sprache. Da wird erinnert und geflunkert und über sich selbst gelacht. Und über den Fremden, der die Geschichten glaubt und der mir auf der Straße entgegenkommt. Mit einem gedrechselten Blumenständer in der Hand.
Ein bisschen ist es wie in der Dachkammer. Puppen und Bären und Schaukelpferde, die in die Jahre gekommen sind und ein bisschen Staub angesetzt haben. Aber in deren Glasaugen es verdächtig blitzt. Das Karussell in der Ecke ist zu bunt und dreht sich zu schnell.
Das, lieber Henning Ihlenfeldt, will ich Ihnen sagen, nachdem ich alles gesehen habe. Ich hoffe, Sie hatten ein schönes Fest. Dass mir Ihr Kuchen schmeckt, das wissen Sie ja schon.